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Ulrich Mayer-Uhma

Ulrich Mayer-Uhma
Jahrgang 1937

  


  

Einiges über meinen nachberuflichen Lebenswandel

Die nachfolgenden Zeilen, nach Aufforderung geschrieben, sollen lediglich ein kleines Beispiel für sinnerfülltes Ruhestandsleben geben; beispielhaft können und wollen sie nicht sein! Jeder Einzelne hat eigene Veranlagungen, eigene Interessen und Ansprüche, denen es nach dem Berufsleben mit unterschiedlichen Schwerpunkten nachzugehen gilt, wie immer dies persönliche Kräfte und äußere Bedingungen erlauben. Ich habe mit Eintritt in den Ruhestand nicht plötzlich eine besondere Reiselust bei mir entdeckt oder ein neues Hobby angefangen. Wie von selbst rückten Tätigkeiten, die während meiner Berufszeit als Musik- und Französischlehrer an der Carl-Strehl-Schule in Marburg eher Nebensache waren, in den Vordergrund.

Gewiss war es ein Vorteil, dass ich, als studierter Schul- und Kirchenmusiker, mein Hauptinstrument Orgel stets aktiv gepflegt habe. Daher ergab es sich von selbst, dass ich meine Nebentätigkeit als Organist weiterführte und sie inzwischen weit über 30 Jahre ausübe. Inzwischen hat sich noch ein Stellenwechsel ergeben, und wir sind am neuen Platz dabei, die Orgel zu erweitern. Fast automatisch intensivierte sich eine gewisse Konzerttätigkeit. Als Höhepunkte ansehen möchte ich hierbei ein Bachkonzert in Marburg zum 250. Todestag des Komponisten am 28. Juli 2000, Messiaenaufführungen in Sindelfingen und anderswo sowie ein Orgelkonzert in Marburgs Kugelkirche, das zum Bonifatiusjahr im Bistum Fulda 2004 stattfand. Ein Problem wäre hierbei allerdings anzusprechen, das andere Kollegen mit unterschiedlicher Ausprägung auch kennen: Konnte ich in den ersten Ruhestandsjahren eine Verbesserung meiner Gedächtnisleistung registrieren - erklärbar durch das Wegfallen vielfältiger schulischer Aufgaben -, so bleibt dennoch festzuhalten, dass Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis nicht mehr so selbstverständlich auf hohem Niveau zur Verfügung stehen, wie einst, sondern gepflegt und trainiert werden müssen. Auch das Einstudieren neuer Stücke ist mühsamer und langsamer geworden. Desgleichen bedürfen die rein körperlichen Fähigkeiten (Manualtechnik, Pedaltechnik, Kopf-Hand-Fuß-Koordination) mehr noch als früher kontinuierlicher Übung. Vorbildfunktion in der Beziehung, besitzen für mich die blinden Organisten Helmut Walcha und Gaston Litaize. Zwar ist mir nicht bekannt, dass Walcha nach dem 60. Lebensjahr noch neue größere Werke erarbeitet hat, doch hatte er sein großes Repertoire bis ins Alter von 75 - 80 Jahren zuverlässig präsent. Mein Lehrer Litaize konzertierte mit 80 Jahren noch international und verfügte über erstaunliche technische Koordinationsfähigkeit. Es war mir eine Freude, gleichsam zu seinem zehnten Todesjahr 2001 als eine meiner Ruhestandsarbeiten seine "Messe pour tous les temps" für Orgel einzustudieren und mehrfach öffentlich aufzuführen.

Das Auswendiglernen größerer Werke ist ohne Beherrschung der Braillenotenschrift allenfalls in Ausnahmefällen möglich. Helmut Walcha, der keine Punktschriftnoten konnte, war Zeit seines Lebens von einer Hilfsperson abhängig (seiner Mutter in jungen Jahren, seiner Ehefrau später). Albert Huttenlocher, mein erster Musiklehrer an der Stuttgarter Blindenschule, brachte dem damals 9-jährigen vor mehr als 60 Jahren die wichtigsten Notenkenntnisse bei, seitdem bin ich in zunehmendem Maße ein Fan dieses Systems. Sicherlich ist es graphisch nicht so anschaulich wie die Notenschrift der Sehenden, da uns Blinden aber nun mal ein weiträumiges Gesichtsfeld fehlt, ist die horizontale Ausrichtung unseres Notensystems dem tastenden Lesefinger total angemessen. Die sehende Geigerin, Notenübertragerin und Verfasserin des "New International Manual of Braille Music Notation" von 1996 und des "Dictionary of Braille Music Signs" von 1979, die Amerikanerin Bettye Krolick, nennt u. a. zwei Vorteile der Braillenotenschrift, gegenüber der Schwarzschrift: 1. Die Tatsache, dass Töne mit ihrem Notenwert in allen Höhenlagen "absolut" dargestellt werden, d. h., dass beispielsweise Viertelnote "g" in tiefer oder hoher Lage stets durch das gleiche Zeichen repräsentiert wird, während Sehende wegen unterschiedlicher Notenschlüssel oder bei vielen Hilfslinien in Schwierigkeiten geraten können. 2. Durch die Verwendung von Intervallzeichen werden Blinde schneller und intensiver an harmonisch-melodische Tonverhältnisse herangeführt als Sehende.

Seit 1971 bin ich Leiter der Deutschsprachigen Blindennotenschrift-Kommission und berate in dieser Eigenschaft stets gern Punktschriftverlage bei der Herausgabe von Noten. Die Leitung des internationalen Unterausschusses für Braillenotenschrift in der WBU, die ich ab 1994 inne hatte, habe ich im Herbst 2004 an jüngere Mitglieder abgegeben, die durch berufliche Verankerung an Bibliotheken und Verlagen eine organisatorische und fachliche Stütze besitzen. Meine Mitarbeit in besagtem Unterausschuss ist damit aber nicht beendet und gilt vor allem speziellen Darstellungsfragen besonderer Bereiche (Gregorianik und andere).

Über die Notenschrift ergab sich in den letzten Monaten eine etwas kuriose Ruhestandsbeschäftigung: Ich wurde gefragt, den kompositorischen Nachlass des blinden amerikanischen Musikers Moondog, der 1999 in Münster verstorben ist, zu sichten. Einen Großteil seines Oevres hat Moondog, der eigentlich Louis Hardin hieß, einer Gönnerin diktiert, so dass es schwarzschriftlich vorhanden ist. Jetzt möchte man wissen, ob die Punktschriftmanuskripte noch weitere Stücke zur Übertragung hergeben. So waren 107 Ordner, mit meist unsystematisch eingelegtem Material, durchzusehen. Der Inhalt wurde mit den allerwichtigsten Informationen zu einzelnen Stücken schriftlich festgehalten. Es fanden sich kurze, kanonisch angelegte Vokalsätze, aber auch opulent besetzte Orchesterwerke. Stilistisch reicht die Palette von Folkloristischem, Minimalistischem und Jazzhaftem hin zu berliozähnlichen Themen und künstlich wirkenden kontrapunktischen Strukturen. Seine Texte, naiv gereimt, können kurz, aber auch von epischer Länge sein. Zu letzteren zählen seine Autobiografie und sein "Kosmos", in dem er sich in Anlehnung an historische Ereignisse über Gott und die Welt auslässt. Dabei fällt eine Vorliebe für mythologische Themen, besonders germanischer Herkunft, auf. Im Verlauf dieses Opus` kommt er zu dem Schluss, dass alle großen Komponisten, ob Mozart oder Bach, viele Fehler in ihren Werken gemacht haben und es ihm, Moondog, vorbehalten sei, reinen Kontrapunkt zu schreiben. Die Durchsicht des Materials verlangte aus verschiedenen Gründen viel Geduld: einmal wegen der Unordnung in den Ordnern, dann auf Grund der unkonventionellen Schreibung von Textangaben und Noten. Zwar stimmen die reinen Notenzeichen und -werte, die meisten Zusatzzeichen jedoch sind Eigenerfindungen oder lehnen sich an Schreibweisen aus der Zeit vor 1900 an. Alles zu entziffern war mir nicht möglich. Moondog hat nur mit einer vierzeiligen Punktschrifttafel geschrieben, häufig auf zusammengefaltete Blätter aus Schwarzdruckzeitschriften, da er sich bei seinem genialischen Vagabundendasein kein Punktschriftpapier leisten konnte. Lustig zu lesen waren deutsche Liedgedichte in englischer Kurzschrift. Interessant fand ich eine Notiz, die ich mehr zufällig auf einer Blattrückseite entdeckte: Den blinden italienischen Komponisten Francesco Landini aus dem 14. Jahrhundert betreffend stellt Hardin fest, dieser habe italienische und französische Stilmittel kombiniert und fragt dann: Wie hat er das ohne Brailleschrift gemacht?

Außer den musikbezogenen Tätigkeiten, gibt es in Haus und Garten oder sonst im täglichen Leben natürlich noch manch anderes zu tun. Auch kürzere Reisen werden einbezogen. Im persönlichen Bereich hat die Abfassung von Patientenverfügung, von Vorsorgevollmacht bzw. Betreuungsverfügung einen vorläufigen notariellen Abschluss erfahren. Etwas Klavierunterricht garantiert ein wenig Kontakt zu Schülern. Künftige Konzertplanungen reichen ein Jahr voraus. In einer Arbeitsgruppe wird ein neues Lehrbuch der Blindennotenschrift erarbeitet, das in Zürich erscheinen soll; es wird mich mit dem allgemeinen Band über die Grundlagen noch einige Zeit beschäftigen.

  

  

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