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Christoph Bernhard Schlüter

Dr. Hans-Eugen Schulze

Christoph Bernhard Schlüter
1801-1884

Ein blinder Philosoph des vorigen Jahrhunderts


Grund für mich, über ihn zu forschen, war der Umstand, daß sich die Fachgruppe "Ruhestand" des DVBS in ihrem 9. Seminar aus Anlaß des 200. Geburtstags der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff unter anderem mit ihrem Werk befassen wollte und Schlüter einer ihrer Zeitgenossen und sogar Weggefährten war. Von Beruf Jurist gewesen, wollte ich in meinem Beitrag nicht sein Werk würdigen, sondern nur zusammentragen, was ich über sein Leben fände. Das waren leider nur Nachrichten von Sehenden, die in Schlüter möglicherweise vor allem den Blinden bewundert haben. Mit dieser Einschränkung ist der nachfolgende Auszug aus meinem Vortrag zu lesen.

Geboren wurde Schlüter am 27.03.1801 in Warendorf bei Münster als Sohn eines angesehenen Juristen. Er entstammte - das ist für seine Entwicklung in der damaligen Zeit sicher nicht ohne Belang - einer vielseitig interessierten und begabten, vermögenden westfälischen Familie. Zur Zeit seiner Geburt war sein Vater Stadtrichter. Nach einer Zwischenstation in Düsseldorf wurde er im Jahre 1815 Oberlandesgerichtsrat in Münster. Dort bildete sein Haus - wie es in einer Biographie von Hüffer heißt, die ich der Blindenschule Paderborn verdanke, von der sich aber nicht mehr feststellen läßt, aus welchem Buch oder welcher Zeitschrift sie stammt - "den Mittelpunkt eines angeregten geistigen Lebens. Die Überlieferungen der Familie, ihre zahlreichen Verbindungen blieben auf den lebhaften Knaben nicht ohne Einfluß."

Zur Ursache seiner Erblindung zitiere ich aus einem Nachruf zu Schlüters 50. Todestag im Westfälischen Kurier vom 4.2.1934: "Von Natur aus sehr lern- und wißbegierig, suchte er durch eigene Anschauung, durch Probieren usw. alles zu ergründen, und dieser Trieb sollte ihm zum Verhängnis werden. Er selbst erzählt darüber: "Trotz des Verbots meiner Eltern nahm ich, acht Jahre alt, eine Flasche, füllte sie mit Kalk und Wasser, tat einen Stöpsel darauf und band eine Blase fest darüber. Ich wollte die Flasche in den Garten stellen und dann von fern einen starken Knall hören, dachte aber, es würde nicht so schnell geschehen ... Die Flasche zersprang. Der Kalk und das Glas flogen in meine beiden Augen. Drei Monate mußte ich im Dunkeln sitzen. Die Untätigkeit und Langeweile während dieser Zeit waren mir fast unerträglicher als die großen Schmerzen."

Trotz seines Augenleidens absolvierte Schlüter mit knapp 18 Jahren das Gymnasium in Münster. Von 1819 bis 1822 studierte er in Göttingen Philosophie und Philologie. Danach wünschte er eine Anstellung am münsterschen Gymnasium. Aber die Prüfung 1824 fiel so günstig aus, daß man ihm riet, sich als Dozent der Philosophie an der neu gegründeten Akademie - der heutigen Universität - in Münster niederzulassen. So setzte er dort zunächst seine Studien fort. Am 30.11.1826 hielt er seine Antrittsrede und begann - nach seiner Habilitation am 14.5.1827 - seine Vorlesungen über Geschichte der Philosophie.

"Inzwischen hatte aber", schreibt Hüffer, "sein Augenleiden in bedrohlicher Weise zugenommen. Im nächsten Jahr steigerte es sich zur völligen Blindheit ... Schwere Stunden hatte Schlüter in dieser Zeit zwischen Furcht, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit durchlebt und in schmerzvollen Gedichten den Bedrängnissen seiner Seele Ausdruck gegeben. Aber er bestand die Probe, und selten hat jemand aus solcher Leidensnacht zu einer so gleichmütig-heiteren Geistesklarheit sich erhoben. Was ihn dazu befähigte, war eine sein ganzes Leben durchdringende tiefe religiöse Gesinnung, vereinigt mit einer Willensstärke und einer Geduld, welche durch nichts sich abschrecken oder ermüden ließen. Unverdrossen widmete Schlüter sich seinem Amt. Seine Vorlesungen erstreckten sich über das ganze Gebiet der Philosophie. 1843 wurde er von der Universität Würzburg zum Ehrendoktor, 1848 in Münster zum außerordentlichen Professor ernannt. Seine akademischen Studien hatten ihn zu den großen Philosophen des Altertums geführt. Auf der antiken Grundlage suchte er eine christliche Philosophie aufzubauen. Später bei der Bekämpfung materialistischer Ansichten ging sein Hauptaugenmerk dahin, die Entdeckungen der Naturwissenschaft mit der christlichen Schöpfungslehre zu vereinigen. In seinem Hörsaal versammelten sich vorzugsweise solche Schüler, die durch eine reine Liebe zur Wissenschaft sich auszeichneten. Nicht wenige waren dem verehrten Lehrer durch persönliche Anhänglichkeit verbunden. In seltenem Maße besaß er die Gabe, im Zwiegespräch und im kleineren Kreis sich mitzuteilen und anzuregen, vor allem wenn auf philosophische Fragen oder ein bedeutendes Erzeugnis der Poesie und Literatur die Rede kam. Seit früher Jugend hatte er die großen Dichter des Altertums in der Ursprache oder in den Übersetzungen von Voß und Stolberg gelesen, auch Klopstock und Goethe verehren gelernt. ... Zu den südländischen Dichtern zogen ihn schon die literarischen Neigungen seines Vaters, vielleicht auch die Überlieferungen einer spanischen Großmutter. In unermüdlichem Wissensdrang erwarb er sich - man könnte sagen - eine Ahnung der Weltliteratur, und bei einem glücklichen Gedächtnis, das er schon infolge seines Leidens unablässig zu üben und zu schärfen sich gewöhnt hatte, stand ihm in der Unterredung wie auch bei seinen Schriften ein unerschöpfliches Material zur Verfügung."

Dazu zitiere ich ergänzend aus dem Nachruf im Westfälischen Kurier: "Neben einer staunenswerten Wissensfülle besaß er ein treues Gedächtnis. So wußte er unter anderem den ganzen Horaz und die Oden des Pindar auswendig. Erstaunlich war auch seine Kenntnis fremder Sprachen. Er war nicht nur ein Meister der toten, sondern auch der modernen Sprachen, der italienischen, französischen, provencialischen, spanischen, portugiesischen, englischen, holländischen und polnischen. So war es ihm möglich, vieles ins Deutsche zu übersetzen."

In einem Nachruf in der Zeitschrift der Blindenlehrer "Blindenfreund", 1884, S. 51, heißt es, er hielt "Vorlesungen über die meisten Fächer der Philosophie, über Logik, Metaphysik, Dialektik, Geschichte der alten und neuen Philosophie, Unsterblichkeit der Seele, Glauben und Wissen, Gotteserkenntnis, Pantheismus und Materialismus, Dantes Philosophie und andere. Wer den blinden Professor auf dem Katheder über die schwierigsten Probleme der Wissenschaft in wohlgesetzter klarer Sprache frei vortragen hörte, der mußte nicht weniger über das tiefe und allseitige Wissen staunen, als über die Klarheit und Gedächtnistreue, mit der er die verwickeltsten Gründe der Wissenschaft im freien Vortrag seinen Hörern darlegte. Welche Gedächtnismittel er hierbei anwandte, hat er in einer für blinde Lehrer sehr beachtenswerten Abhandlung auseinandergesetzt, die sich noch als Manuskript in meiner Mappe befindet und gelegentlich in diesem Blatt veröffentlicht werden soll (Anm.: was jedoch nie geschehen zu sein scheint). Mehr als durch seine öffentlichen Vorträge wirkte Schlüter durch den anregenden Verkehr, den er mit den strebsamsten Geistern unterhielt. Sein stilles Haus war ein wahrer Musentempel, wo sich junge Leute . . . stets zahlreich einfanden, um sich über Wissenschaft und Kunst, Poesie und Musik zu unterhalten und zu belehren; denn auch über echte Kunst und über die Schöpfung Gottes wußte der Blinde so gut zu sprechen, als wenn ihm der Anschauungssinn nicht fehlte. Er liebte es ganz besonders, sich berühmte Gemälde beschreiben zu lassen und das hierdurch gewonnene Bild wieder anderen mit begeisterten Worten zu schildern." Erst mit 27 völlig erblindet, kann er auch im hohen Alter noch über gute Seherinnerungen und darum über die Fähigkeit verfügt haben, gute Schilderungen selbst zu verarbeiten. In diesem Zusammenhang ist sein Buch "Gemälde und Bildwerke im Dome und Friedenssaale zu Münster" zu erwähnen.

Schlüter hatte das große Glück, daß ihm beide Eltern lange erhalten blieben, der Vater bis 1861, die Mutter sogar bis 1866, als er selbst bereits 65 Jahre alt war.

Seinen Arbeitsstil schildert Kull in seiner Sammlung "Aus dem Leben für das Leben" wie folgt: "Er arbeitete in der Tat vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Schon um 5 Uhr begann er den Tag, und nachdem er seinen Geist durch Gebet geweckt, studierte er mit seinen Vorlesern von 6 bis 1 Uhr. Nach dem Mittagsmahle, das ebenfalls durch Vorlesen gewürzt wurde, ruhte er ein wenig. Danach machte er einen kleinen Spaziergang und hielt dann seine Vorlesungen. Darauf wurde die Zeit bis abends 11 Uhr mit Lesen, Korrigieren und Disputieren hingebracht."

Der Erholung diente ihm Musik, der er sehr zugetan war. Er spielte Flöte, Harfe, Zither, und andere Instrumente versuchte er wenigstens (Mell, Enzyklopädisches Handbuch des Blindenwesens, S. 693).

Die Blindenschrift war, bis er starb, in Deutschland noch kaum verbreitet. Müßig zu überlegen, ob er sie sonst wohl noch gelernt und benutzt haben würde. Immerhin hat er die Errichtung der Blindenschule Paderborn mit angeregt. Die Gründerin dieser Schule, Pauline von Mallinckrodt, stand mit ihm in Verbindung und soll ihn sehr verehrt haben.

Daß er noch selbst die Schrift der Sehenden geschrieben hätte - etwa mit einer Führung, wie wir sie in den heutigen "Schwarzschrifttafeln" haben - ist nicht überliefert.

Auf die Frage, ob er nicht den Verlust seiner Sehkraft bedauere, soll er - so der "Blindenfreund" - geantwortet haben: Wenn ein Wunderarzt zu mir käme und mir das Gesicht wiedergeben wollte - ich würde mich bedanken; denn jetzt bin ich zufrieden, und ich weiß nicht, ob ich es sehend sein würde.

Sein philosophischer Standpunkt läßt sich - heißt es in dem Nachruf von 1934 - so festlegen: "Er war Theosoph, der auf der Grundlage der griechischen Philosophie eine christliche aufbauen wollte. Dazu war er wegen seiner ausgedehnten vorzüglichen Kenntnisse der alten, patristischen, mittelalterlichen und gesamten neueren Philosophie ganz besonders geeignet. Von seinen philosophischen Schriften seien erwähnt seine Arbeiten über Spinoza 1836, Scotus Erigena 1838, Kaleph ben Nathan 1845, und die deutschen Materialisten 1861. Nicht zuletzt müssen Schlüters große Verdienste um die Naturwissenschaften hervorgehoben werden. War ihm auch die praktische und experimentelle Naturforschung unmöglich, so wußte er sich doch im Verkehr mit sachkundigen Freunden umfassende Kenntnisse selbst der neuesten Leistungen und Entdeckungen zu erwerben. Sein Ziel war, einen möglichst tiefen Einblick in den inneren Zusammenhang der Natur zu gewinnen und die christlichen Wahrheiten gegen die zahlreichen, mehr oder weniger unchristlichen Doktrinen zu verteidigen, die in den Naturwissenschaften hervortraten. Im Verein mit einem Freund gab er die Zeitschrift "Natur und Offenbarung" heraus, die unendlich viel zur gläubigen Naturauffassung beigetragen hat. Schlüter selbst war einer der bedeutendsten und eifrigsten Mitarbeiter dieser Zeitschrift. In der Tat staunenswert ist die Vielseitigkeit und Tiefe seines Wissens, zumal wenn man bedenkt, daß er durch seine Erblindung an einer vollen Entfaltung behindert war."

Mit Annette von Droste-Hülshoff kam Schlüter im Jahre 1834 in nähere Verbindung. Sie besuchte ihn damals öfter und trug ihm Gedichte und Lieder vor. Dem Umstand, daß beide selten an demselben Ort zusammenwohnten, verdanken wir nach der Einschätzung Hüffers eine große Anzahl von Briefen Annettens, "so anmutig, wie sie nicht häufig aus einer deutschen Feder hervorgegangen sind. Wenn man Annette von Droste-Hülshoff mit Recht die Dichterin der Freundschaft nennt, so war Schlüter der Mann, demgegenüber dies edle Gefühl den vollkommensten Ausdruck fand . . . Schlüter war es auch, der für die erste Sammlung der Gedichte Annettens 1838 einen Verleger fand ... Für eines ihrer reifsten und edelsten Werke, den zweiten Teil des Geistlichen Jahres, war Schlüters Einfluß und der Gedanke, für ihn zu schreiben, von wesentlicher Bedeutung. Ihm wurde auch die Herausgabe übertragen, als Annette im Vorgefühl ihrer herannahenden Auflösung im September 1846 von der westfälischen Heimat Abschied nahm." 1877 und 1880 hat Schlüter die Briefe Annettens veröffentlicht, im Jahre 1877 außerdem eine Sammlung von 24 Liedern der Dichterin.

Am 21. Januar 1884, als er fast 83 Jahre alt war, hielt er seine letzte Vorlesung. Er erkrankte drei Tage später und starb am 4. Februar.

Mit diesem Bericht wollte ich einem Manne ein Denkmal setzen, der unter sehr viel schwereren Voraussetzungen hatte forschen müssen, als wir das heute können, und dem wir trotzdem eine große Hinterlassenschaft verdanken. Gerühmt wird von Hüffer, daß von Schlüters Mitarbeitern mehrere zu selbständigem Arbeiten angeregt wurden - welch ein Glück für einen Blinden, dem das gelingt!

 

  

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